Um/Lei(s)tung

Ich gebe es zu: Ich war anfangs skeptisch. Sehr sogar. Wie immer eigentlich, wenn es für jemanden mit Vollgas von null auf einhundert geht und die Presse mitfeiert. Auf einmal fragten sich alle: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?

 

Das war so ziemlich genau vor zehn Jahren.

 

Vorgestern fiel mir dann ein Interview in die Hand, das meine Beziehung zu Richard David Precht, den ich bis jetzt mehr oder weniger als „Philosoph für die Masse“ wahrgenommen hatte, auf Neustart setzte. Ich saugte die Zeilen auf wie Sauerstoff nach einem tiefen Tauchgang und erwischte mich dabei, wie ich meine Häkchen an seine Aussagen setzte.

 

Eines der großen Themen, die Precht umtreiben, ist die moderne Leistungsgesellschaft, in der sich der Mensch seiner Meinung nach nur noch über seine Arbeit definiert. „Die klassische Leistungsgesellschaft funktioniert nicht mehr, wenn für die Hälfte der Leute keine Arbeit mehr da ist.“ Aber was kann dann noch Sinn stiften, den wir doch alle so umtriebig suchen? Seine Antwort: das Immaterielle, denn „wir brauchen nicht mehr Zeug, wir brauchen mehr Zeit“. Meine Antwort: all das, was man nicht anfassen, aber spüren kann.

 

Wie das möglich wird? Precht plädiert für ein Grundeinkommen, dass uns die finanzielle Absicherung und damit Raum und Zeit gibt, unsere Kreativität dazu zu nutzen, statt Geld Sinn anzuhäufen. Denn am Ende steht eine Konklusion, wie sie für unsere Gesellschaft vernichtender nicht sein könnte: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Effizienzdenken die Kreativität abtötet.“

 

To be creative, kreativ sein...

 

Creāre Bedeutungen:

 

[1] hervorbringen, (er-) schaffen

 

[2] (Menschen: Kinder) zeugen, gebären

 

[3] (Beamte, Priester und dergleichen) (er-) wählen, ernennen

 

[4] ein Amt, Staatsgewalt, eine Institution et cetera schaffen, ins Leben rufen

 

[5] verursachen, bewirken

 

Gegenteil: destruere = zerstören

 

 

Für mich heißt das: Wenn wir aufhören, kreativ zu sein, hören wir auf, Neues hervorzubringen. Wozu uns das führt? Unausweichlich zum Stillstand. Wir sind sozusagen „locked-in“ , bewegen uns weder vor- noch rückwärts. Völlig handlungsunfähig sehen wir den Problemen beim Wachsen zu und freuen uns über das Monotone, das uns zumindest eine gewisse Form von (finanzieller) Sicherheit verspricht: „Im Silicon Valley geht es wie in der ‚Höhle der Löwen‘ um das schnelle, sichere Geschäftsmodell. Aber diese Einstellung blockiert die Kreativität völlig. Viele Dinge, die am Anfang verrückt aussehen und am Ende einen Segen für die Menschheit bringen könnten, werfen kein schnelles Geld ab und werden daher nicht gefördert. Es ist so eigentümlich: Tausende von intelligenten Leuten sind im Valley versammelt und für die wirklichen Probleme der Menschheit kommt so wenig heraus.“

 

Kreativität wird für mich zur Moral, wenn sie, um bei den Worten Prechts zu bleiben, dazu gebraucht wird, „die vorliegenden Probleme zu lösen – und nicht (dazu), blindwütigen Wachstumssteigerungs-Schnickschnack auszudenken, den die Menschheit nicht braucht.“

 

Zu guter Letzt:

Natürlich kann man weiterhin darüber streiten, ob es am Ende gar nicht mehr um philosophische Inhalte sondern massentaugliche Oberflächen geht, wenn die Philosophie in persona zur Primetime eine Fernsehshow-Bühne betritt.

 

Für eines bin ich Richard David Precht aber jetzt schon dankbar: er macht darauf aufmerksam, dass unsere Disziplin Antworten auf viele Probleme, Ängste und Dilemmata unserer Wirklichkeit bieten kann – und befreit sie damit ein Stück weit von der immer noch viel zu verbreiteten Meinung, sie stecke im „Elfenbeinturm“ fest.

Viel mehr noch: Mit der Spende seines Gewinns aus besagter Quizshow an den Bundesverband „MENTOR – Die Lesehelfer“, setzt er ein Statement, dass das Glück der Mehrheit fördert und dass es allein deshalb anzuerkennen gilt.